«Um die Herausforderungen der modernen Neutrinophysik zu meistern, braucht es internationale Zusammenarbeit. Dieses Abkommen ist das perfekte Beispiel dafür.»
Materie und Universum
Neben Photonen sind Neutrinos die am häufigsten vorkommenden Elementarteilchen im Universum. Ihre Rolle bei der Entwicklung des Universums und letztendlich bei der Beantwortung der Frage, warum wir hier sind, ist von grosser Bedeutung und motiviert Physikerinnen und Physiker weltweit. Trotz ihrer Häufigkeit sind Neutrinos äusserst schwer nachzuweisen. Deshalb sind wissenschaftliche Experimente mit ihnen äusserst komplex und benötigen innovative Technologien, grossen Einsatz und hohe finanzielle Investitionen. Dies ist nur möglich, wenn mehrere internationale Partner involviert sind.
In diese Richtung geht auch eine neue Forschungsvereinbarung zwischen der Universität Bern und dem US-amerikanischen Forschungslabor Fermilab in Illinois (USA). Im September 2019 unterzeichneten die beiden Institutionen eine Vereinbarung über ihre künftige Zusammenarbeit bei Neutrino-Experimenten. Es ist das erste Abkommen zwischen einer Schweizer Universität und Fermilab, einem der weltweit führenden Labors für Teilchenphysik, das inzwischen stark an der Erforschung der Neutrinos beteiligt ist.
Der Beitrag der Berner Forschenden an der wissenschaftlichen Zusammenarbeit umfasst drei Projekte: MicroBooNE, SBND und das Deep Underground Neutrino Experiment (DUNE), das als das ultimative Neutrino-Observatorium der Welt gilt. Mit DUNE wird eine grosse internationale Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Antworten liefern auf grundlegende Fragen im Zusammenhang mit dem Ursprung des Universums, dem Urknall, dem Grund für die Vorherrschaft der Materie über die Antimaterie, mit der Rolle des mysteriösen Neutrinos in der Kosmologie und der Funktionsweise von Sternen und Galaxien sowie der Entwicklung und des Schicksals unseres Universums.
«Noch heute befinden sich in einem durchschnittlich grossen Zimmer rund 15 Milliarden Neutrinos, die beim Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren entstanden sind.»
Neutrinos, die wir nachweisen können, stammen aus verschiedenen Reaktionen im Universum – zum Beispiel Supernovae – oder aus der Wechselwirkung kosmischer Strahlen mit der Erdatmosphäre. Sie können aber auch künstlich mit Teilchenbeschleunigern hergestellt werden. Warum ist es so schwierig, sie aufzuspüren? Immerhin sind sie die am häufigsten vorkommenden Materieteilchen in der Natur – rund tausend Milliarden von ihnen durchqueren jede Sekunde unseren Körper, ohne Schaden zu verursachen. Genau darin liegt aber der Grund: Die Wahrscheinlichkeit, dass Neutrinos mit Materie interagieren, ist extrem klein. Dazu gehört unser Körper wie jede andere Art von Materie – einschliesslich der Teilchendetektoren der Physikerinnen und Physiker!
Darüber hinaus sind Neutrinos winzige Elementarteilchen, die leichtesten bekannten Bausteine der Materie. Sie wiegen praktisch nichts und bewegen sich daher nahe an der Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen des Kosmos. Kein Wunder also, dass sie oft auch als «Geisterteilchen» bezeichnet werden und nur durch den Einsatz gigantischer Detektoren sichtbar gemacht werden können. Diese Detektoren gleichen die verschwindend kleine Wahrscheinlichkeit einer Wechselwirkung aus, indem für die Experimente sehr grosse Massen eingesetzt werden – Hunderttausende Tonnen! Und hier kommt die Universität Bern ins Spiel.
Das Video zeigt, wie das Deep Underground Neutrino Experiment (DUNE) die Neutrinos aufspüren soll und wozu die Neutrinoforschung dient.
Ihre langjährige Erfahrung mit der Neutrinophysik bringen Forschende der Universität Bern derzeit an drei Neutrino-Experimenten am Fermilab ein, alle mit dem Ziel, die Eigenschaften unseres Geisterteilchens gründlich zu untersuchen. Das grösste davon ist das Deep Underground Neutrino Experiment – kurz DUNE.
DUNE ist ein hochmodernes internationales Experiment, das den intensivsten Neutrinostrahl der Welt erzeugen wird. Diese künstlich erzeugten Neutrinos werden auf einer Reise von 1'300 Kilometern vom Fermilab-Standort in der Nähe der Stadt Batavia, Illinois, nach Lead in South Dakota geschickt, wo ihre Wechselwirkungen von einem Detektor aufgezeichnet werden, der 1,5 Kilometer unter der Erde befindet (weitere Informationen siehe Video oben). DUNE befindet sich derzeit im Bau – der Spatenstich fand 2017 statt und das Experiment soll bis 2026 in Betrieb sein. Der unterirdische DUNE-Detektor wird schliesslich aus 40'000 Tonnen flüssigem Argon bestehen, in dem elektronische Geräte die schwachen Signale von Neutrino-Kollisionen identifizieren. Es gibt jedoch bereits jetzt Detektor-Prototypen, die Daten erfassen. Diese befinden sich am CERN in Genf und werden Proto-DUNEs genannt.
Die Forschenden der Universität Bern sind für die Hauptkomponente des sogenannten DUNE «near detector» verantwortlich, der Neutrinos unmittelbar nach ihrer Entstehung im Fermilab nachweisen soll, bevor sie in Richtung «far detector» fliegen. Die Hauptkomponente des near detectors – ArgonCube genannt – ist ein Detektortyp, der speziell für die vollständige räumliche 3D-Rekonstruktion von Neutrino-Wechselwirkungen entwickelt wurde. Und dies trotz der harten experimentellen Bedingungen, die durch den extrem intensiven Neutrino-Strahl erzeugt werden. «ArgonCube ist eine neuartige Implementierung der Flüssig-Argon-Technik, die hier von unserer Gruppe in Bern konzipiert, entwickelt und auch als Prototyp gebaut wurde», sagt Professor Michele Weber, der die Berner DUNE-Gruppe nach Antonio Ereditatos Pensionierung im August 2020 leiten wird.
Die Universität Bern führt am Fermilab zwei weitere Experimente durch, die ebenfalls auf der Flüssig-Argon-Technologie basieren und zum sogenannten Short-Baseline-Neutrino (SBN) Programm gehören. Das SBN umfasst drei Neutrino-Detektoren. Damit wollen die Forschenden Neutrino-Oszillationen erforschen (die Umwandlung eines Neutrino-Typs in einen anderen) und nach dem «sterilen Neutrino» suchen – einem neuen hypothetischen, aber nie beobachteten Neutrino. Für die beiden SBN-Detektoren MicroBooNE und SBND stellen die Berner Forschenden das von ihnen entwickelte UV-Laserkalibrierungssystem sowie ein grossflächigen Zähler (den Cosmic Ray Tagger) zur Verfügung, mit dem sich Teilchen identifizieren lassen, welche kosmischen Ursprungs sind.